10.04.2024, Jasmin Schweizer
Je länger ich lebe, desto klarer werden die wichtigen Dinge in meinem Leben. Mit den Lebensjahren wird auch der Lebensinhalt extrahiert. Was bleibt, hat Substanz.
Ich stelle mir einen Filter vor, in welchen oben alles an Erlebtem und Erfahrbarem von meiner Kindheit, meiner Jugend und meinem Erwachsenenleben nach und nach hineinkommt. Je älter ich werde und je mehr Erfahrungen ich während meines Lebens mache, desto mehr nimmt der Inhalt an Tiefe an. Der Platz wird enger, das Gelebte verdichtet sich. Unten kommt nur die Essenz heraus und überlebt die Zeit.
Mit dieser Substanz, die meine Verhaltensweise prägt und mich wesentlich als die Person definiert, die ich bin, setze ich mich zuweilen auseinander. Im Positiven, wenn ich mich stark, erfolgreich, gesund und zufrieden fühle, von anderen geliebt, oder zumindest gemocht werde und entsprechendes Feedback erhalte. In diesem Zustand empfinde ich Dankbarkeit dafür, dass ich so viel Glück im Leben habe, mich getragen und geborgen fühle und das Universum es offensichtlich gut mit mir meint.
Doch es gibt auch Zeiten, wo es nicht rund läuft, wo ich anecke – bei anderen und bei mir selbst. Immer wieder falle ich in die gleichen Muster zurück. Ich lebe in der Vergangenheit, wiederhole meine Handlungen und Reaktionen. Ich verhalte mich so, wie ich es früher gemacht habe, auch wenn es mich nicht glücklich, im schlimmsten Fall sogar krank macht. Es ist wie ein Zwang und läuft automatisch ab, ausgelöst durch etwas oder jemanden. Im Nachhinein ärgere ich mich, dass es wieder passiert ist. Manchmal bin ich dann ratlos, resigniere, weiss nicht, ob ich es je schaffe, mich zu verändern. Das frustriert. In solchen Momenten ist es einfach, den Umständen oder den anderen die Schuld dafür zu geben.
Doch je älter ich werde, je mehr Substanz übrigbleibt, desto freier, mutiger und unkonventioneller wird auch mein Geist. Was habe ich zu verlieren, wenn ich ehrlich hinschaue, mir nichts vormache? Was habe ich zu verlieren, wenn ich mich meinen Unzulänglichkeiten stelle und diese benenne? Was habe ich zu verlieren, wenn ich mich mit meinem Leben auseinandersetze und versuche, mir meiner destruktiven Verhaltensweisen bewusst zu werden? Was habe ich zu verlieren, wenn ich mich hinsetze, mir die Zeit nehme und mir ernsthaft überlege, wo ich mich verändern will? Nichts.
Der Weg dorthin ist anstrengend, braucht Ausdauer und Energie, macht manchmal traurig, manchmal wütend und unsicher. Doch ich habe keine Wahl. Ich bin sicher, wenn ich diesen Weg nicht gehe, wird das Leben mich eines Tages einholen, so wie ich mir das nicht wünsche. «So wie es in den Wald ruft, schallt es zurück.»
Wenn ich bereit bin, bei mir anzufangen, muss ich mich nicht mehr über andere oder die Umstände beklagen. Was für eine Freiheit! Es lohnt sich, diesen Weg zu beschreiten, loszulassen und mir und dem Leben zu vertrauen. Somit ist klar, was ich gewinnen werde:
Ein gutes Leben.
Rückmeldung oder Fragen:
